Stimmungsbarometer Q3/2023: Niedergelassene sind pessimistischer als zu Corona-Zeiten
- Entwicklung der Stimmung in den ärztlichen Fachgruppen
- Ursachen für die Stimmungsentwicklung: Negative Einflüsse von Politik und Selbstverwaltung
- Stimmung, Lage und Erwartung im Zeitverlauf
- Wirtschaftliche Lage und Erwartung in den Fachgruppen
- Vergleich mit dem ifo-Geschäftsklimaindex
- Kommentar: Ein mehr als deutliches Warnsignal
Die wirtschaftliche Stimmung der niedergelassenen Ärzt:innen hat mit -38,7 Punkten einen neuen Tiefststand seit Beginn der Erhebung im Jahr 2006 erreicht. Zum Vergleich: Während der Corona-Pandemie lag der Tiefpunkt der Stimmung bei -28,9.
Die Einschätzung der aktuellen wirtschaftlichen Lage verschlechterte sich um fast 10 Punkte (minus 9,7 Punkte zum vorherigen Quartal), die Erwartung für die kommenden sechs Monate ging um 5,5 Punkte zurück.
Entwicklung der Stimmung in den ärztlichen Fachgruppen
Die Stimmung sank im dritten Quartal in allen ärztlichen Fachgruppen. Am deutlichsten verschlechterte sie sich bei den Zahnärzt:innen (minus 14,7 Punkte), die nun auch insgesamt an letzter Stelle rangieren. Auch bei den Fachärzt:innen ging die Stimmung deutlich zurück (minus 8,3 Punkte). Leichtere Einbußen zeigen sich bei den Psychologischen Psychotherapeut:innen (minus 3,8 Punkte) und bei den Hausärzt:innen (minus 3,2 Punkte).
Ursachen für die Stimmungsentwicklung: Negative Einflüsse von Politik und Selbstverwaltung
Ausschlaggebend für die negative Stimmungsentwicklung in der Ärzteschaft sind derzeit vor allem zwei Faktoren: 82,5 Prozent der Responder sehen einen negativen Einfluss von Entscheidungen und Vorgaben von Politik und Selbstverwaltung, 77,6 Prozent kritisieren negative Auswirkungen der Digitalisierung. Neu auf dem dritten Platz der Negativ-Faktoren ist die finanzielle Situation der Praxen: Im zweiten Quartal 2023 war diese erst an vorletzter Stelle genannt worden.
Stimmung, Lage und Erwartung im Zeitverlauf
Wirtschaftliche Lage und Erwartung in den Fachgruppen
Vergleich mit dem ifo-Geschäftsklimaindex
Sowohl der ifo-Geschäftsklimaindex als auch der Stimmungsindex der Ärzt:innen haben sich innerhalb des 3. Quartals 2023 negativ entwickelt: Der Index der Ärzt:innen sank dabei etwas stärker (Rückgang um 3,7 Punkte) als der Geschäftsklimaindex (Rückgang um 2,9 Punkte). Insgesamt betrachtet ist die wirtschaftliche Stimmung bei den niedergelassenen Ärzt:innen weiterhin schlechter als in den Branchen des ifo-Index.
Kommentar: Ein mehr als deutliches Warnsignal
Der Arztberuf wurde früher oft als „wunderschön“ bezeichnet. Eine eigene Praxis zu haben war das Ziel der meisten Medizinstudenten. Die Mischung aus Berufung und professioneller Freiheit, verbunden mit einem guten Einkommen, kompensierte für die hohe zeitliche und emotionale Belastung. Ohne die „guten alten Zeiten“ allzu sehr strapazieren oder die negativen Aspekte ignorieren zu wollen, war der freie Arztberuf eine wesentliche Stütze des deutschen Gesundheitssystems.
Diese Stütze droht nun jedoch wegzubrechen. Die aktuelle wirtschaftliche Stimmung der niedergelassenen Ärzte ist auf einem Tiefpunkt. Ihr Stimmungsbarometer zeigt im dritten Quartal 2023 den absoluten Tiefstand seit Beginn der Erhebung im Jahr 2006. Die Kombination aus schlechter aktueller Lage und geradezu dramatisch anzusehender negativer Erwartungen führt zu diesem Rekordtief. Die gilt für Hausärzte und Fachärzte gleichermaßen.
Sicher lassen sich Einwände gegen eine solche „gefühlte Temperatur“ finden, doch wenn die niedergelassene Ärzteschaft so einhellig die Ausübung ihres Berufs zum fünften Mal in Folge als zutiefst belastend und unbefriedigend wahrnimmt, dann sind nachhaltige Konsequenzen zu befürchten. Ein rascher Ausstieg aus einer Praxis ist wegen der vielfältigen Verpflichtungen und Verbindlichkeiten nicht immer möglich, wird jedoch durch die zunehmende Aktivität von privatwirtschaftlichen Investoren zunehmend erleichtert. Außerdem können Ärztinnen und Ärzte ihren Praxisbetrieb früher aufgeben oder jüngere Nachwuchskräfte sich trotz aller Bemühungen eben nicht niederlassen – das Resultat sind dann erhebliche Lücken in der flächendeckenden Versorgung.
Die Ergebnisse der Stiftung Gesundheit stehen nicht isoliert: Eine Erhebung des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (Zi) im Rahmen des Zi-Praxis-Panels (ZiPP) zeigt ebenfalls eine historisch schlechte Stimmung, was vom Zi als „mehr als deutliches Warnzeichen“ interpretiert wird. Die Autoren sehen eine direkte Verbindung zwischen nachlassender Attraktivität einer eigenen Praxis und der Zunahme unbesetzter Arztsitze. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung hat im September eine Mailingaktion gestartet, bei der sich Bürgerinnen und Bürger an ihre Bundestagsabgeordneten wenden sollen, um einen drohenden Praxenkollaps abzuwenden. Und auch der Streik von zehntausenden von Praxen am 2. Oktober zeigt deutlich, wie hoch die Unzufriedenheit der Niedergelassenen geworden ist.
Die Warnzeichen sind also nicht zu übersehen. Handeln kann letztlich nur die Gesundheitspolitik. Unzureichende Finanzierung, Reformstau bei den Vergütungssystemen (GOÄ, Hybrid-DRGs), mangelnde Wertschätzung (wie beispielsweise durch Ausbleiben der „Corona-Prämie“ für medizinische Fachangestellte) und fehlende Einbindung der ambulanten Versorgung in die aktuelle Krankenhausreform sind aktuelle Beispiele, bei denen ein erheblicher Handlungsbedarf besteht. Eine konsequente und rasche Umsetzung der von Justizminister Buschmann mitinitiierten europäischen Entbürokratisierungs-Initiative und endlich eine stringente und praktische Digitalisierungsstrategie wären zwei sehr hilfreiche erste Schritte.
Erhebung: Repräsentative Erhebung mithilfe eines Online-Fragebogens
Erhebungszeitraum: 6.–13. September 2023
Sample: Für jede Berufsgruppe wurde eine repräsentative geschichtete Zufallsstichprobe angeschrieben. Für die aktuelle Befragung erhielten insgesamt 10.000 niedergelassene Hausärzt:innen, Fachärzt:innen, Zahnärzt:innen und Psychologische Psychotherapeuten aus dem Strukturverzeichnis der Versorgung eine Einladung zur Befragung. Zusätzlich wurden 1.714 Ärzt:innen angeschrieben, die regelmäßig an der Befragung teilnehmen.
Rücklauf: 781 valide Fragebögen (Rücklaufquote 6,7 Prozent). Die Ergebnisse sind repräsentativ mit einem Konfidenzniveau von 99% (Konfidenzintervall < ±5%).
Über das Stimmungsbarometer
Seit mehr als 15 Jahren erhebt die Stiftung Gesundheit die wirtschaftliche Stimmung der niedergelassenen Ärzt:innen in der ambulanten Versorgung. Das Stimmungsbarometer (früher: Medizinklimaindex) gibt differenziert Auskunft darüber, wie die niedergelassenen Ärzt:innen in Deutschland ihre aktuelle wirtschaftliche Lage einschätzen und welche Entwicklung sie in den kommenden sechs Monaten erwarten.
Die Stimmung der Ärzt:innen wird analog zum Geschäftsklima für die gewerbliche Wirtschaft des ifo Institutes (Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München e.V.) erhoben: Aus den Antworten zur Einschätzung der aktuellen Lage und zur Erwartung werden zunächst Salden für Lage und Erwartung gebildet. Die einzelnen Gruppen werden dabei entsprechend ihres Anteils an der Grundgesamtheit gewichtet, um ein repräsentatives Stimmungsbild zu erhalten. Der Wert für die Stimmung der Ärzt:innen entspricht dem Mittelwert der Salden für die aktuelle Lage und die Erwartung. Mehr Details finden Sie auf unserer Seite Methodik und Berechnung.